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November 2010
26.11.2010 10-11-38 BGH
     
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  Gockeleien und Heucheleien vor Gericht. Mehr Rückgrat bei der Rechtsprechung!
 

 <S. 6> Ein Verteidiger hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Übergabe von Kopien der Ermittlungs- und Gerichtsakten. Er kann sie sich bei Akteneinsichtnahme selbst fertigen. Gleichwohl wird sinnvoller Weise häufig anders verfahren, wenn dies aus Gründen der Fairness, der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung angezeigt erscheint. (1)
 
<S. 7> Im Übrigen kann der tadelnde Hinweis „nun mandeln Sie sich doch nicht so auf“ oder „jetzt mandeln Sie sich schon wieder auf“ vor dem Hintergrund des von der Strafkammer in ihrem Beschluss über die Zurückweisung des Befangenheitsantrags geschilderten Prozessverhaltens des Verteidigers nur als eine auf bayerisch eher zurückhaltend formulierte Bitte um Respektierung des Rechts und der Pflicht des Strafkammervorsitzenden, die Verhandlung zu leiten ( § 238 Abs. 1 StPO), sowie um Wahrung des - auch standesrechtlich geforderten ( § 43a BRAO) - Gebots der Sachlichkeit verstanden werden. (1)
 

Fünf junge Entscheidungen des BGH gilt es vorzustellen.

Ein Verteidiger hat grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass ihm Kopien von Schriftsätzen und Beschlüssen ausgehändigt werden ( links oben). Alles andere ist pure Nettigkeit.

Die Zurechtweisung eines Verteidigers muss manchmal sein, damit sich das Gericht nicht von ihm die Butter vom Brot nehmen lässt. Das sind meine Worte, der BGH sagt's feiner ( links unten).

Lange Zeit das einzige Verwertungsverbot in der Strafprozessordnung ist in § 136a StPO bestimmt: Der Beschuldigte darf nicht durch Gewalt, List, falsche Versprechungen oder gar Medikamente in seiner Willensfreiheit beeinträchtigt werden. Geschieht das, dann sind seine Angaben auch dann unverwertbar, wenn er ihrer Verwertung zustimmt. Das Verwertungsverbot beschränkt sich jedoch auf die Teile einer Aussage, die tatsächlich unter Gewalt erpresst worden sind ( rechts oben).

Gegen Heucheleien wendet sich der BGH etwas verklausuliert ( rechts unten). Er spricht die bekannte Einlassungsstrategie an: "Ich gestehe alles, aus dem ich mich nicht herausreden kann!"

<LS> Wird ein Beschuldigter in ausländischer Haft bei Vernehmungen geschlagen, so führt dies nicht zur Unverwertbarkeit seiner Äußerungen im Rahmen eines Gesprächs, das er während der Haft mit einem deutschen Konsularbeamten führt, wenn hierbei die Misshandlungen keinen Einfluss auf den Inhalt seiner Angaben mehr haben. (2)

<13> Ein nicht am tatsächlichen Schaden, sondern am Ermittlungsstand orientiertes und auch sonst zumindest sehr zögerliches Verhalten legt schon im Ansatz eine - fakultative - Strafrahmenmilderung gemäß § 46a StGB nicht ohne weiteres nahe ... Dies kann aber dahinstehen, da allein ein Schuldanerkenntnis oder gar dessen bloße Ankündigung keine Grundlage eines Täter-Opfer-Ausgleichs in der hier allein in Betracht kommenden Alternative des § 46a Nr. 2 StGB sein kann ... (3)
 
Solche Lippenbekenntnisse sind taktisch ausgerichtet und zeigen keine Reue und kein auf Wiedergutmachung ausgerichtetes Nachtatverhalten ( § 46 Abs. 2 StGB). Sie sind kalkulierte Sprechblasen und von der Erkenntnis (oder Beratung) der Unvermeidbarkeit geprägt. Dadurch verdienen sie kein Entgegenkommen im Wege der Strafzumessung oder gar einer Strafrahmenverschiebung wie im Falle der (ehrlichen) Schadenswiedergutmachung.

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<6> Der Senat neigt zu der Auffassung, dass bei Mitteilung eines möglichen Verfahrensergebnisses ( § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO) stets ein Strafrahmen, also Strafober- und Strafuntergrenze, anzugeben ist (vgl. näher BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2010 - 1 StR 347/10 mwN). (4)
 

<Rn 17> Werden - jeweils entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag - die Voraussetzungen für die Einordnung einer Tat als minder schwerer Fall verneint, die Voraussetzungen für die Einordnung einer Tat als besonders schwerer Fall jenseits von Regelbeispielen bejaht, die Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe angenommen oder eine Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, dann muss dies in den Urteilsgründen erörtert werden ( § 267 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 StPO). Gleiches gilt u.a. für die Nichtanordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag ( § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO). (5)

 

Der 1. Senat prescht mit der Forderung hervor, dass im Rahmen einer Verständigung nicht nur eine Strafobergrenze ausgehandelt werden muss, sondern ein angemessener Strafrahmen, der immer auch eine Strafuntergrenze (15.11.2010) hat. Das bringt er in der schon angesprochenen Entscheidung auf den Punkt ( links oben).

Die Anforderungen an die Begründungstiefe von Urteilen konkretisiert eine weitere Entscheidung ( links unten).

Diese Art der Besserwisserei und Zurechtweisung ist nicht unproblematisch. Sie ist panoptisch, verliert und verliebt sich in Details und schürt die Angst der Praktiker davor, einen Vers des hohen Gerichts übersehen oder falsch eingeschätzt zu haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Instanzgericht nur am Fall und nicht im Allgemeinen argumentiert. Das Panoptikum als Gesamtbild stellt sich dann aber als ein Zerrbild aus verschiedenen Handlungsanweisungen im Einzelnen dar: Das darfst Du, das darfst Du nicht und das ist (mit bedenkend wiegendem Kopf) bedenklich. Die Linie gerät dabei aus dem Blick und ich glaube nicht, dass die fünf Strafsenate des BGH immer dieselbe Linie vor Augen haben.

Gelegentlich strukturiert der BGH seine Rechtsprechung und verknüpft die verschiedenen Entscheidungen zu einen geflochtenen Strang. In Bezug auf die Begründungserfordernisse in einem Strafurteil scheint es mir daran aber noch zu fehlen.

Die Ohrwatschen kommen zuletzt ( rechts oben). Es ist natürlich völlig neben Sache, Ausführungen über das Erfordernis der Verbüßung zu machen, wenn das Gericht auf eine Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren erkennt. Auch die Frage, ob der Verurteilte in den offenen Vollzug gehört, muss von anderen entschieden werden.
 

<Rn 6> Bei Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sind Ausführungen zur Strafaussetzung zur Bewährung fern liegend; die Frage, "ob es des Vollzugs der Freiheitsstrafe bedürfe", stellt sich nicht und muss vom Tatrichter daher auch nicht erörtert werden. Das gilt erst Recht auch für die hier vom Landgericht ausgesprochene "dringende Empfehlung", den Angeklagten "umgehend in den offenen Vollzug aufzunehmen" (UA S. 16). Solche rechtlich unverbindlichen Hinweise können Erfordernisse und Besonderheiten des Vollzugs der Freiheitsstrafe und des Vollstreckungsverfahrens der Natur der Sache nach nicht berücksichtigen und begründen die Gefahr, als rechtlich bindend fehlgedeutet zu werden. (6)

 

Die vom BGH kritisierte tatrichterliche Bemühtheit ist vom ihm nicht ganz unverschuldet. Seit Jahrzehnten straft der BGH seine nachgeordneten Berufskollegen ab und provoziert damit Unsicherheiten. Ich wünsche mir mehr Zöpfe, die er flicht.

Zwei Entscheidungen sind beim BGH anhängig, die mich brennend interessieren. Das Landgericht Verden hat entschieden, dass Vorratsdaten, die nach Maßgabe der vorläufigen Entscheidungen des BVerfG zulässig erhoben wurden, nach dem Urteil vom 02.03.2010 überhaupt nicht mehr verwertet werden dürfen (7). Mit meiner Position (8) hat sich das Gericht (Dank kollegialer Unterstützung) ausdrücklich auseinander gesetzt und abgelehnt. Anders das Landgericht Hannover (9), ohne mich zu erwähnen.

Am 15.11.2010 soll ein mit dieser Entscheidung berufener BGH-Richter bei einer justizöffentlichen Veranstaltung den Cyberfahnder nicht nur als ernsthafte Quelle, sondern auch wohlwollend zitiert haben - ausdrücklich "im Gegensatz zum Leipziger Kommentar".

Ich bin gespannt!
 

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(1) BGH, Beschluss vom 03.10.2010 - 1 StR 500/10

(2) BGH, Beschluss vom 14.09.2010 - 3 StR 573/09

(3) BGH, Beschluss vom 11.10.2010 - 1 StR 359/10
 

 
(4) (3)

(5) BGH, Beschluss vom 19.10.2010 - 3 StR 226/10

(6) BGH, Beschluss vom 06.10.2010 - 2 StR 394/10

(7) Grundsätze: Umgang mit Verkehrsdaten, 07.03.2010

(8) Kochheim, Zum Umgang mit Verkehrsdaten, 07.03.2010

(9) Dort habe ich mich nur in der Revisionsgegenerklärung selber erwähnt. Wenn zwei Alphatiere aufeinander treffen, kann es manchmal etwas kompliziert werden.
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018