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Januar 2012 |
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Gefährdungsschaden und Schwellengleichheit |
Rechtsprechungsreport: Jüngere Entscheidungen des BVerfG | |||
Mit einer für die Vollstreckungspraxis bedeutsamen Entscheidung mahnt das BVerfG die Einhaltung der gesetzlichen Prüffristen beim Maßregelvollzug an ( § 67e StGB) und verlangt bei einer fast sieben Monate langen Überschreitung nach einer tragfähigen Begründung. Grundsätzlich führt eine maßgebliche Fristüberschreitung zu einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen (1). |
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Sehr ausführlich setzte sich das BVerfG (2) jüngst mit einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2009 auseinander (3) und äußert sich damit erneut zu zwei unterschiedlichen, aber jeweils bedeutsamen Themen.
Einerseits verlangt das BVerfG einmal mehr nach
einer
Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens (siehe
unten) im Zusammenhang
mit dem Gefährdungsschaden beim Betrug. Das verfassungsrechtliche
Bestimmtheitsgebot (
Art. 103 Abs. 2 GG) ist jedenfalls dann verletzt, wenn bereits
Vertragsschlüsse mit unredlichen Vertragspartnern zu vollendeten
Straftaten führen sollen (hier: Lebensversicherungsverträge, die
planvoll missbraucht werden sollten). Diesen Teil des BGH-Urteils hob das
BVerfG auf. |
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Im Übrigen bestätigt das BVerfG die Auffassungen des BGH über die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus polizeilichen Eingriffsmaßnahmen. Die Ausführungen sind teilweise etwas formelhaft und verklausuliert. Ich habe mich deshalb um eine Zusammenfassung bemüht ( Fazit). Ihre wesentliche Aussage ist, dass nicht nur Verwertungsverbote eine Ausnahme sind, sondern dass auch ihre Thematisierung nur im begründeten Einzelfall nötig ist, weil das Strafverfahrensrecht einen ausreichenden Grundschutz für Grund- und Verfahrensrechte leistet.
Zuvor noch
ein Hinweis auf eine ältere Entscheidung, die ich wiederendeckt habe: Die im Zuge
einer TKÜ aufgenommenen Hintergrundgespräche sind verwertbar. Das gilt
auch dann, wenn der Überwachte aufgrund eines Bedienungsfehlers Raumgespräche führt, ohne das Mobiltelefon tatsächlich abgeschaltet zu
haben
(4). |
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Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens | |||
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In einer
anderen Entscheidung hat dieser Senat auch die Meinung vertreten, dass
der betrügerische Abschluss von Lebensversicherungsverträgen unmittelbar
zu einem Schaden führen kann, wenn
die Leistungswahrscheinlichkeit gegenüber dem vertraglich
vereinbarten Einstandsrisiko signifikant erhöht war, weil die Täter
bereits bei den Vertragsabschlüssen von Lebensversicherungen die Absicht
verfolgten, mit gefälschten Todesbescheinigungen die
Versicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen
(10). |
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Dem ist das BVerfG jetzt mit deutlichen Worten entgegen getreten und hat den Beschluss des BGH in diesem Punkt kassiert (11). Nach der allgemeinen Einleitung (siehe links) bestätigt das BVerfG die Konstruktionen des Eigehungs- und des Erfüllungsbetruges <Rn 172, 173> und schließlich auch die Lehre vom Gefährdungsschaden: Es ist jedenfalls grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden anzunehmen <Rn 175>. Allerdings darf auf diese Weise der Tatbestand des § 263 StGB nicht verfassungswidrig überdehnt werden (...). Das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens begrenzt die Betrugsstrafbarkeit und kennzeichnet § 263 Abs. 1 StGB als Vermögens- und Erfolgsdelikt. Verlustwahrscheinlichkeiten dürfen daher nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss bleibt <Rn 176>. Das ist der Angriffspunkt in der angefochtenen Entscheidung des BGH: Es fehlt an der ausreichenden Beschreibung und der Bezifferung der Vermögensschäden, die durch den Abschluss der Lebensversicherungsverträge verursacht wurden oder - in den Versuchsfällen - verursacht worden wären. Ein Schuldspruch wegen Betrugs durch das Revisionsgericht setzt voraus, dass eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens entweder bereits erfolgt oder - in den Evidenzfällen, in denen eine nähere Darlegung sich erübrigt - sicher möglich ist <Rn 178>. Schließlich: Alles dies deutet darauf hin, dass der Bundesgerichtshof nicht die Feststellung eines konkreten Schadens in den Blick genommen hat, sondern für die Feststellung eines Vermögensschadens (abstrakte) Risiken genügen lässt, die jeder Vertragsschluss mit einem unredlichen Vertragspartner mit sich bringt. Damit wird der Charakter des Betrugs als Vermögensdelikt unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hintangestellt <Rn 179>. Die Rechtsprechung des BVerfG verlangt nach klaren und nachvollziehbaren Messgrößen bei der Bezifferung (oder zurückhaltenden Schätzung) des eingetretenen und des drohenden Schadens beim Versuch des Betruges. Ein "signifikant erhöhtes Eintrittsrisiko" bringt jeder unredliche Vertragspartner mit sich. Es reicht nicht dazu aus, ihn wegen eines vollendeten Betruges zu verurteilen. Die Diskussion um den Schadensbegriff und die
schadensgleiche Vermögensgefährdung ist damit längst nicht abgeschlossen.
Einer der interessanten Ansätze bleibt aus meiner Sicht die
Differenzierung zwischen Eingehungs- und Erfüllungsschaden
(13).
Sie ist noch sehr theoretisch und müsste zunächst mit weiteren
Anwendungsfällen ausgefüllt werden. |
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Verwertbarkeit polizeilicher Eingriffsmaßnahmen | |||
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In der Folge geht es um die Frage der Zweckänderung, also darum, ob die polizeirechtlich gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren verwertet werden dürfen ("hypothetischer Ersatzeingriff"). Ausschlaggebend ist zunächst, dass es sich bei der präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung nicht um eine nach dem Grundgesetz generell unzulässige Maßnahme handelt und dass ihre tatsächliche Durchführung den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung entsprach <Rn 135>. Grundsätzlich besteht eine Sperre gegen die Zweckänderung: Speicherung und Verwendung personenbezogener Informationen und Daten sind grundsätzlich an den Zweck und an das Verfahren gebunden, für die sie erhoben wurden (...). Eine Zweckänderung bedarf einer formell und materiell verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage und muss durch Allgemeinbelange gerechtfertigt sein, die die grundrechtlich geschützten Interessen überwiegen <Rn 133>. Der Verwendungszweck, zu dem die Erhebung erfolgt ist, und der veränderte Verwendungszweck dürfen nicht miteinander unvereinbar sein (...). Eine solche Unvereinbarkeit läge vor, wenn mit der Zweckänderung grundrechtsbezogene Beschränkungen des Einsatzes bestimmter Erhebungsmethoden umgangen würden, die Informationen also für den geänderten Zweck nicht oder nicht in dieser Art und Weise hätten erhoben werden dürfen <Rn 147>. Die Zulässigkeit der Verwertung folgert das BVerfG aus dem schlichten § 261 StPO und seinem Regelungszusammenhang <Rn 138 ff.>. § 261 StPO entspricht bei verfassungskonformer Anwendung, die in Ausnahmefällen ein Verwertungsverbot anerkennt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Unverhältnismäßige Eingriffe sind bereits durch die Verfahrensstruktur regelmäßig ausgeschlossen; verbleibenden Ausnahmefällen kann durch ein Verwertungsverbot begegnet werden <Rn 144>. Schon angesichts dieser Struktur des Strafverfahrens und der dadurch gewährleisteten Filterfunktion bereits auf der Ebene der Informationserhebung und Zweckänderung bedarf es für den Regelfall rechtmäßiger Informationserhebung keiner (weiteren) gesetzlichen Einschränkungen oder Konkretisierungen auf der Ebene der Informationsverwertung im Urteil <Rn 148>. Fazit - oder mit anderen Worten: Die Frage nach der Verwertung von polizeirechtlich gewonnenen Erkenntnissen setzt zunächst eine zulässige Eingriffsmaßnahme wegen der Informationsgewinnung voraus. Die (polizeiliche) Eingriffsnorm muss hinreichend bestimmt sein und dem verfassungsrechtlichen Schutz der Grundrechte und des Kernbereichs privater Lebensgestaltung genügen. Die Eingriffsmaßnahme muss nach Maßgabe des Strafverfahrensrechts zulässig sein ("hypothetischer Ersatzeingriff") und darf nicht dazu führen, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die im Strafverfahren nicht hätten erhoben werden dürfen (Filterfunktion). Für diesen Prüfungsschritt wird auch der Begriff der "Schwellengleichheit" verwendet. Ende 2007 wurden ausdrückliche Vorschriften in die StPO eingeführt, die die Weitergabe an andere Verfahren ( § 477 Abs. 2 S. 2 StPO) und die Einführung von Erkenntnissen aus anderen Verfahrensordnungen regeln ( § 161 Abs. 2 StPO) (15). Bei ihrer Auslegung und Anwendung ist weiterhin die Rechtsprechung zu berücksichtigen, die zuvor entwickelt wurde. Die Verfahrensvorschriften der StPO und ihr Regelungszusammenhang gewähren bereits einen Grundschutz für die von der Verfassung gewährten Persönlichkeits- und Verfahrensrechte. Sie müssen deshalb nicht bei jeder Rechtsanwendung thematisiert oder gar in Frage gestellt werden. Verwertungsverbote im Strafverfahren sind eine Ausnahme. Ihrer Erörterung bedarf es deshalb grundsätzlich nicht, sondern nur, wenn der Einzelfall dazu Anlass gibt.
Insoweit darf die Verfahrensordnung auch Schranken setzen. Etwa in der
Weise, dass ein ausdrücklicher Widerspruch in der Hauptverhandlung
oder eine begründete Rüge verlangt wird. |
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Anmerkungen | |||
(2) BVerfG, Beschluss vom 07.12.2011 - 2 BvR 2500/09, 1857/10 (3) BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08 (4) BGH, Urteil vom 14.03.2003 - 2 StR 341/02 (5) Schaden und schadensgleiche Vermögensgefährdung, 31.01.2010 (6) Auch: Gefährdungsschaden. BVerfG, Beschluss vom 10.03.2009 - 2 BvR 1980/07.
(7)
BVerfG: Bezifferter Gefährdungsschaden, 15.08.2010; (8) Beeinträchtigung und Verlust, 31.01.2010
(9)
Der Eingehungsschaden löst den Gefährdungsschaden ab, 16.02.2011;
(10)
BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08, Rn 155;
(3).
(11)
BVerfG, Beschluss vom 07.11.2011 - 2 BvR 2500/09,
1857/10, Rn 162 ff; (12) Ebenda (11), Rn 168. (13) Siehe (9). (14) Ebenda (11), Rn 124.
(15)
zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse, 28.02.2009 |
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© Dieter Kochheim, 11.03.2018 |