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Januar 2012
08.01.2012 Rechtsprechung
     
zurück zum Verweis zur nächsten Überschrift Gefährdungsschaden und Schwellengleichheit
  Rechtsprechungsreport: Jüngere Entscheidungen des BVerfG
   
 Mit einer für die Vollstreckungspraxis bedeutsamen Entscheidung mahnt das BVerfG die Einhaltung der gesetzlichen Prüffristen beim Maßregelvollzug an ( § 67e StGB) und verlangt bei einer fast sieben Monate langen Überschreitung nach einer tragfähigen Begründung. Grundsätzlich führt eine maßgebliche Fristüberschreitung zu einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen (1).
 
 
Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens
  Kritik des BVerfG am BGH
  Fazit
 
Verwertbarkeit polizeilicher Eingriffsmaßnahmen
  Fazit
 
 

Sehr ausführlich setzte sich das BVerfG (2) jüngst mit einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2009 auseinander (3) und äußert sich damit erneut zu zwei unterschiedlichen, aber jeweils bedeutsamen Themen.

Einerseits verlangt das BVerfG einmal mehr nach einer Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens (siehe unten) im Zusammenhang mit dem Gefährdungsschaden beim Betrug. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot ( Art. 103 Abs. 2 GG) ist jedenfalls dann verletzt, wenn bereits Vertragsschlüsse mit unredlichen Vertragspartnern zu vollendeten Straftaten führen sollen (hier: Lebensversicherungsverträge, die planvoll missbraucht werden sollten). Diesen Teil des BGH-Urteils hob das BVerfG auf.
 

Die Verwertung eines vom Beschuldigten mit Dritten in einem Kraftfahrzeug geführten Raumgesprächs kann auf eine schon bestehende, rechtsfehlerfrei ergangene Anordnung nach § 100a StPO gestützt werden, wenn der Beschuldigte eine zuvor von ihm selbst hergestellte Telekommunikationsverbindung beenden wollte, diese jedoch aufgrund eines Bedienungsfehlers fortbesteht (4).
 

Im Übrigen bestätigt das BVerfG die Auffassungen des BGH über die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus polizeilichen Eingriffsmaßnahmen. Die Ausführungen sind teilweise etwas formelhaft und verklausuliert. Ich habe mich deshalb um eine Zusammenfassung bemüht ( Fazit). Ihre wesentliche Aussage ist, dass nicht nur Verwertungsverbote eine Ausnahme sind, sondern dass auch ihre Thematisierung nur im begründeten Einzelfall nötig ist, weil das Strafverfahrensrecht einen ausreichenden Grundschutz für Grund- und Verfahrensrechte leistet.

Zuvor noch ein Hinweis auf eine ältere Entscheidung, die ich wiederendeckt habe: Die im Zuge einer TKÜ aufgenommenen Hintergrundgespräche sind verwertbar. Das gilt auch dann, wenn der Überwachte aufgrund eines Bedienungsfehlers Raumgespräche führt, ohne das Mobiltelefon tatsächlich abgeschaltet zu haben (4).
 

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Seit geraumer Zeit ringt der BGH um den Begriff des Schadens beim Betrug ( § 263 StGB) und bei der Untreue ( § 266 StGB) (5). In die Diskussion griff mehrfach auch das BVerfG ein. Zunächst bestätigte es die von Rechtsprechung und Lehre entwickelte "schadensgleiche Vermögensgefährdung" (6) und forderte später einen "zahlenmäßig fassbaren Schaden" (7). Mehrere Senate des BGH versuchten, den Gefährdungsschaden rechnerisch greifbar zu machen (8), und hielten ihn sogar als rechtlich definierten Begriff für entbehrlich. Der dritte Strafsenat äußerte sich mit einem Vorschlag, bei dem er genauer zwischen Eingehungs-, Erfüllungs- und weiteren Schäden (Folgeschaden) unterschied (9).

In einer anderen Entscheidung hat dieser Senat auch die Meinung vertreten, dass der betrügerische Abschluss von Lebensversicherungsverträgen unmittelbar zu einem Schaden führen kann, wenn die Leistungswahrscheinlichkeit gegenüber dem vertraglich vereinbarten Einstandsrisiko signifikant erhöht war, weil die Täter bereits bei den Vertragsabschlüssen von Lebensversicherungen die Absicht verfolgten, mit gefälschten Todesbescheinigungen die Versicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen (10).
 

Der mögliche Wortsinn des § 263 Abs. 1 StGB („durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen“) ist nicht überschritten, wenn eine Täuschung durch schlüssiges Verhalten angenommen wird. Auch die Erfassung konkludenter Täuschungen darüber, zukünftig den eigenen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen zu wollen und keine Verletzung vertraglicher Pflichten zu beabsichtigen, bewirkt keine Entgrenzung des § 263 Abs. 1 StGB oder Ausuferung der Strafbarkeit. Insbesondere führt dies nicht dazu, dass schon allein „allgemeine Unredlichkeit“ oder „böse Absichten“ strafbar wären. Aus der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 263 Abs. 1 StGB auf derartige Täuschungen folgt nicht, dass ein schlüssiges Verhalten mit entsprechendem Erklärungswert auch im konkreten Einzelfall vorliegt. Außerdem begrenzen weitere Tatbestandsvoraussetzungen die Strafbarkeit. Die Täuschung muss zunächst einen korrespondierenden Irrtum verursachen. Schließlich setzt der Straftatbestand voraus, dass ein Schaden verursacht wird. Schon dies verhindert, dass allein die Verletzung oder beabsichtigte Verletzung von Vertragspflichten ohne Vermögensbezug zur Strafbarkeit führt. (12)

Dem ist das BVerfG jetzt mit deutlichen Worten entgegen getreten und hat den Beschluss des BGH in diesem Punkt kassiert (11). Nach der allgemeinen Einleitung (siehe links) bestätigt das BVerfG die Konstruktionen des Eigehungs- und des Erfüllungsbetruges <Rn 172, 173> und schließlich auch die Lehre vom Gefährdungsschaden: Es ist jedenfalls grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden anzunehmen <Rn 175>.

Allerdings darf auf diese Weise der Tatbestand des § 263 StGB nicht verfassungswidrig überdehnt werden (...). Das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens begrenzt die Betrugsstrafbarkeit und kennzeichnet § 263 Abs. 1 StGB als Vermögens- und Erfolgsdelikt. Verlustwahrscheinlichkeiten dürfen daher nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss bleibt <Rn 176>.

Das ist der Angriffspunkt in der angefochtenen Entscheidung des BGH:

Es fehlt an der ausreichenden Beschreibung und der Bezifferung der Vermögensschäden, die durch den Abschluss der Lebensversicherungsverträge verursacht wurden oder - in den Versuchsfällen - verursacht worden wären. Ein Schuldspruch wegen Betrugs durch das Revisionsgericht setzt voraus, dass eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Bezifferung und Darlegung eines Mindestschadens entweder bereits erfolgt oder - in den Evidenzfällen, in denen eine nähere Darlegung sich erübrigt - sicher möglich ist <Rn 178>.

Schließlich: Alles dies deutet darauf hin, dass der Bundesgerichtshof nicht die Feststellung eines konkreten Schadens in den Blick genommen hat, sondern für die Feststellung eines Vermögensschadens (abstrakte) Risiken genügen lässt, die jeder Vertragsschluss mit einem unredlichen Vertragspartner mit sich bringt. Damit wird der Charakter des Betrugs als Vermögensdelikt unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hintangestellt <Rn 179>.

Fazit:

Die Rechtsprechung des BVerfG verlangt nach klaren und nachvollziehbaren Messgrößen bei der Bezifferung (oder zurückhaltenden Schätzung) des eingetretenen und des drohenden Schadens beim Versuch des Betruges. Ein "signifikant erhöhtes Eintrittsrisiko" bringt jeder unredliche Vertragspartner mit sich. Es reicht nicht dazu aus, ihn wegen eines vollendeten Betruges zu verurteilen.

Die Diskussion um den Schadensbegriff und die schadensgleiche Vermögensgefährdung ist damit längst nicht abgeschlossen. Einer der interessanten Ansätze bleibt aus meiner Sicht die Differenzierung zwischen Eingehungs- und Erfüllungsschaden (13). Sie ist noch sehr theoretisch und müsste zunächst mit weiteren Anwendungsfällen ausgefüllt werden.
 

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Es begegnet keinen Bedenken, dass ein Verwertungsverbot nach einem Rechtsverstoß bei der Informationserhebung oder -verwendung von einem Widerspruch in der Hauptverhandlung abhängig gemacht wird. Dies trägt einerseits dem Interesse des Angeklagten an einer möglichst weitreichenden Dispositionsbefugnis Rechnung und gewährleistet andererseits, dass eine Beanstandung sowie die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen noch während der Hauptverhandlung geprüft werden können, damit rechtzeitig Klarheit für deren weiteren Verlauf geschaffen wird. Auch die Erforderlichkeit einer Verfahrensrüge im Revisionsverfahren ist unbedenklich, solange an deren Begründung keine überspannten Anforderungen gestellt werden (14).
 

 
Im Zusammenhang mit dem Verdacht terroristischer Aktivitäten wurde gegen die Angeklagten eine Wohnraumüberwachung (großer Lauschangriff) auf polizeirechtlicher Grundlage durchgeführt und deren Erkenntnisse im Strafverfahren verwendet. Bei seiner Überprüfung stellt das BVerfG zunächst fest, dass die polizeirechtliche Eingriffsnorm aus dem Jahr 2004 hinreichend bestimmt ist <Rn 128>.

In der Folge geht es um die Frage der Zweckänderung, also darum, ob die polizeirechtlich gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren verwertet werden dürfen ("hypothetischer Ersatzeingriff"). Ausschlaggebend ist zunächst, dass es sich bei der präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung nicht um eine nach dem Grundgesetz generell unzulässige Maßnahme handelt und dass ihre tatsächliche Durchführung den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung entsprach <Rn 135>.

Grundsätzlich besteht eine Sperre gegen die Zweckänderung: Speicherung und Verwendung personenbezogener Informationen und Daten sind grundsätzlich an den Zweck und an das Verfahren gebunden, für die sie erhoben wurden (...). Eine Zweckänderung bedarf einer formell und materiell verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage und muss durch Allgemeinbelange gerechtfertigt sein, die die grundrechtlich geschützten Interessen überwiegen <Rn 133>.

Der Verwendungszweck, zu dem die Erhebung erfolgt ist, und der veränderte Verwendungszweck dürfen nicht miteinander unvereinbar sein (...). Eine solche Unvereinbarkeit läge vor, wenn mit der Zweckänderung grundrechtsbezogene Beschränkungen des Einsatzes bestimmter Erhebungsmethoden umgangen würden, die Informationen also für den geänderten Zweck nicht oder nicht in dieser Art und Weise hätten erhoben werden dürfen <Rn 147>.

Die Zulässigkeit der Verwertung folgert das BVerfG aus dem schlichten § 261 StPO und seinem Regelungszusammenhang <Rn 138 ff.>. § 261 StPO entspricht bei verfassungskonformer Anwendung, die in Ausnahmefällen ein Verwertungsverbot anerkennt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Unverhältnismäßige Eingriffe sind bereits durch die Verfahrensstruktur regelmäßig ausgeschlossen; verbleibenden Ausnahmefällen kann durch ein Verwertungsverbot begegnet werden <Rn 144>.

Schon angesichts dieser Struktur des Strafverfahrens und der dadurch gewährleisteten Filterfunktion bereits auf der Ebene der Informationserhebung und Zweckänderung bedarf es für den Regelfall rechtmäßiger Informationserhebung keiner (weiteren) gesetzlichen Einschränkungen oder Konkretisierungen auf der Ebene der Informationsverwertung im Urteil <Rn 148>.

Fazit - oder mit anderen Worten:

Die Frage nach der Verwertung von polizeirechtlich gewonnenen Erkenntnissen setzt zunächst eine zulässige Eingriffsmaßnahme wegen der Informationsgewinnung voraus. Die (polizeiliche) Eingriffsnorm muss hinreichend bestimmt sein und dem verfassungsrechtlichen Schutz der Grundrechte und des Kernbereichs privater Lebensgestaltung genügen.

Die Eingriffsmaßnahme muss nach Maßgabe des Strafverfahrensrechts zulässig sein ("hypothetischer Ersatzeingriff") und darf nicht dazu führen, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die im Strafverfahren nicht hätten erhoben werden dürfen (Filterfunktion).

Für diesen Prüfungsschritt wird auch der Begriff der "Schwellengleichheit" verwendet. Ende 2007 wurden ausdrückliche Vorschriften in die StPO eingeführt, die die Weitergabe an andere Verfahren ( § 477 Abs. 2 S. 2 StPO) und die Einführung von Erkenntnissen aus anderen Verfahrensordnungen regeln ( § 161 Abs. 2 StPO) (15). Bei ihrer Auslegung und Anwendung ist weiterhin die Rechtsprechung zu berücksichtigen, die zuvor entwickelt wurde.

Die Verfahrensvorschriften der StPO und ihr Regelungszusammenhang gewähren bereits einen Grundschutz für die von der Verfassung gewährten Persönlichkeits- und Verfahrensrechte. Sie müssen deshalb nicht bei jeder Rechtsanwendung thematisiert oder gar in Frage gestellt werden.

Verwertungsverbote im Strafverfahren sind eine Ausnahme. Ihrer Erörterung bedarf es deshalb grundsätzlich nicht, sondern nur, wenn der Einzelfall dazu Anlass gibt.

Insoweit darf die Verfahrensordnung auch Schranken setzen. Etwa in der Weise, dass ein ausdrücklicher Widerspruch in der Hauptverhandlung oder eine begründete Rüge verlangt wird.
 

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(1) BVerfG, Beschluss vom 29.11.2011  - 2 BvR 1665/10

(2) BVerfG, Beschluss vom 07.12.2011 - 2 BvR 2500/09, 1857/10

(3) BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08

(4) BGH, Urteil vom 14.03.2003 - 2 StR 341/02

(5) Schaden und schadensgleiche Vermögensgefährdung, 31.01.2010

(6) Auch: Gefährdungsschaden. BVerfG, Beschluss vom 10.03.2009 - 2 BvR 1980/07.

(7) BVerfG: Bezifferter Gefährdungsschaden, 15.08.2010;
BVerfG, Beschluss vom 23.06.2010 - 2 BvR 2559/08, 105/09, 491/09.

(8) Beeinträchtigung und Verlust, 31.01.2010

(9) Der Eingehungsschaden löst den Gefährdungsschaden ab, 16.02.2011;
BGH, Beschluss vom 07.1.2010 - 3 StR 433/10.

(10) BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08, Rn 155; (3).
Erhöhung der Leistungswahrscheinlichkeit, 31.01.2010.

(11) BVerfG, Beschluss vom 07.11.2011 - 2 BvR 2500/09, 1857/10, Rn 162 ff;
(2).

(12) Ebenda (11), Rn 168.

(13) Siehe (9).

(14) Ebenda (11), Rn 124.

(15) zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse, 28.02.2009
 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018