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Juni 2009
18.06.2009 AGNES
     
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Detlef Borchers berichtet bei (1) über eine Studie des Bundeskriminalamts über die "Auswirkungen gesetzlicher Neuregelungen auf die Ermittlungspraxis der Strafverfolgungsbehörden" - AGNES, die urplötzlich aufgetaucht sei und deren Quelle er verschweigt (2). Sie setze sich vor allem mit der Rechtsprechung zur Wohnraumüberwachung ( großer Lauschangriff), zur kriminellen Vereinigung und schließlich zur Onlinedurchsuchung sowie mit der Überwachung der Telekommunikation auseinander. Dazu werden Anwendungsfälle aus der Praxis analysiert und im Hinblick auf die gesetzlichen Regelungen und die Rechtsprechung betrachtet.

Allein schon Borchers' Bericht ist lesenswert. Soweit er die  Rechtstatsachensammelstelle des BKA - Retasast, der die Autoren angehören, im Anschluss an den Politikwissenschaftler Stephan Heinrich als ein "Lobbyinstrument" der Behörde kritisiert, das durch gezielte Auswahl der Fälle die Wirkung neuer polizeilicher Befugnisse "beweisen" soll, und die Methode anzweifelt, aus Praxisfällen ein generelles Vorgehen der Polizei zu destillieren, ist ihm kaum zu widersprechen. Er verkennt jedoch die Bedeutung und Brisanz der Studie, die alle wesentlichen Probleme im Zusammenhang mit verdeckten Ermittlungen (3) und der schwierigen Rechtslage anspricht und wenigstens den Versuch unternimmt, sie auf ihre praktischen Umsetzungen zu untersuchen. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich um eine spannende Lektüre.
 

 
Die Rechtstatsachenforschung und die Rechtsfolgenabschätzung sind juristische Fachdisziplinen, die aus der Rechtssoziologie und den Verwaltungswissenschaften entstanden sind. Sie widmen sich den Fragen des praktischen Vollzuges von Gesetzen und anderen Rechtsnormen sowie den Auswirkungen, die gesetzliche Vorgaben haben.

Sie bewirken ein sinnvolles Gegengewicht zu den abstrakten Kopf- und Morallasten der klassischen Rechtswissenschaften, indem sie nicht nur den einzelnen Regelungsbereich betrachten, sondern auch die "Fernwirkungen" unter bestimmten Aspekten und im Gesamtzusammenhang.

Darin unterscheiden sie sich von den polizeilichen Strukturermittlungen, die sich der (mehr) gefahrenabwehrrechtlichen Auswertung und Analyse polizeilich bekannter Tatsachen in Bezug auf Täterbeziehungen und Vorgehensweisen widmen. Sie dienen der Schwerpunktsetzung bei den polizeilichen Aufgaben und sind ebenfalls im Vorfeld strafrechtlicher Ermittlungen angesiedelt.

Die Rechtstatsachenforschung der Polizei ist eine wichtige Ergänzung zu den rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen, weil sie von ihrer Praxisnähe profitiert. Ihr Nachteil ist, dass sie gelegentlich einen verkürzten Blick auf polizeiliche Praxisprobleme hat, weil ihr die gerichtliche Praxis fremd und unbekannt ist.
 

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Die große Schwäche der Studie ist ihre perspektivische Ausrichtung - und die macht sie angreifbar. Sie äußert sich in verräterischen Formulierungen wie:

Es bestehen bei den Polizeidienststellen erhebliche Probleme, wie die neuen normativen Vorgaben für die Wohnraumüberwachung zu interpretieren sind (S. 218).

Mit Verlaub: Die "Interpretation" des Rechts im Zusammenhang mit zugegebenermaßen schwierigen Fragen obliegt nicht der Polizei ( §§ 152 Abs. 1 GVG, 163 StPO), sondern der Staatsanwaltschaft und den Gerichten ( §§ 160 StPO, 1 GVG). Die Forderungen an den Gesetzgeber am Schluss der Studie sind berechtigt, weil sie genau die Probleme aufgreifen, die bei der Ermittlungspraxis einerseits und den rechtsstaatlichen Anforderungen an Eingriffsmaßnahmen andererseits auftreten. Sie müssen eingehend diskutiert werden, nicht sternchenzählend, sondern rechtswissenschaftlich und -tatsachenbezogen.

Problematisch wird die Diskussion, wenn seitens der Polizei ein Alleinanspruch auf die Bestimmung der Schwerpunkte, die erforderlichen Maßnahmen und deren Durchführung im Zusammenhang mit der Strafverfolgung - zumindest unterschwellig - behauptet oder gelebt wird. Das führt sehr schnell zu einer Überbewertung des Verfolgungsanspruchs (und der damit verbundenen Erfolgspropaganda) gegenüber den verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien und den Grauzonen, die eine demokratische Staatsform akzeptieren muss.
 

 
Praktische Schwierigkeiten in Bezug auf Personalaufwände, Dolmetscherkosten und technische Beschränkungen sind der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar zugänglich, aber nicht vorrangig. Wenn der Rechtsstaat seinen Bürgern Strafverfolgung garantiert, dann muss er auch die dafür nötigen Mittel zur Verfügung stellen. Das gilt besonders dort, wo in Freiheitsrechte eingegriffen werden darf. Dort dürfen eben nicht nur die Ressourcen bereitgestellt werden, die den Eingriffsmaßnahmen dienen, sondern auch die, die für ihre Durchführung, Überwachung und Nachbearbeitung (z.B. Mitteilungspflichten und gerichtliche Überprüfungen) nötig sind.

Manchen polizeilichen Stäben ist zu empfehlen, nicht nur die wichtige Rolle der Polizei zu betrachten, sondern auch die Gewaltenteilung und das Gesamtsystem der Strafverfolgung. Dabei spielt die Polizei eine wichtige Rolle - aber eben nicht alleine.

Die Studie über die "Auswirkungen gesetzlicher Neuregelungen auf die Ermittlungspraxis der Strafverfolgungsbehörden" scheint diese Übersicht nicht immer zu behalten. Es mag sein, dass besonders der Schlussteil mit den Folgerungen und Forderungen einer breiten redaktionellen Mitzeichung unterworfen gewesen ist. Was das Ergebnis nicht besser macht.
 

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(1) Detlef Borchers, BKA-Studie zu Online-Durchsuchung und Skype-Ausleitung, Heise online 29.05.2009

(2) Susanne Graf u.a., Auswirkungen gesetzlicher Neuregelungen auf die Ermittlungspraxis der Strafverfolgungsbehörden, BKA 28.08.2008, (bei )

(3) spezielles Beschwerderecht
 

 

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© Dieter Kochheim, 11.03.2018