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Rechtsprechungsreport für den März 2011 |
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11-04-02
Mit den
bestialischen Gewaltfantasien
"pädophil
orientierter Menschen" in einem Internetchat (Zauberwald)
hat sich jetzt auch der BGH auseinandersetzen müssen
(1)
und dabei festgestellt, dass auch solche Täter eine Verbrechensabrede
treffen können (
§ 30 StGB), die sich nicht persönlich und nicht namentlich, sondern
nur unter ihren Tarnnamen kennen. Wegen eines nur einmaligen Kontakts
zwischen den Beteiligten zweifelt der BGH jedoch an einer von
ernstlichen Willen getragenen Einigung ... an der Verwirklichung eines
bestimmten Verbrechens mittäterschaftlich mitzuwirken <Rn 16> und
bemängelt, das erkennende Gericht hätte die
Verbrechensfantasie von wirklichem verbrecherischen Willen und dessen
Umsetzung genauer abgrenzen müssen <Rn 18>.
Wenn ich
dachte, dass die offenen Fragen im
Skimming-Strafrecht eigentlich geklärt sind, hat mich der 3.
Strafsenat des BGH eines Besseren belehrt und einen drauf gesetzt: Die
Täter beim Skimming im engeren Sinne, also die Ausspäher von Kartendaten
und PIN, sind aufgrund ihres maßgeblichen Tatanteils in aller Regel
Mittäter der Fälscher und Casher. Um sie nur als Gehilfen des Fälschens
anzusehen, bedarf es besonderer Umstände im Einzelfall.
So hatte 2008 schon der Generalbundesanwalt argumentiert
(2),
ohne dass das ausdrücklich vom BGH aufgenommen wurde. Ich selber habe
mich zu dieser Frage sehr zurückgehalten und die Beihilfe-Konstruktion
als denkbaren, aber Ausnahmefall bezeichnet, um mich nicht angreifbar zu
machen.
In der
Rückschau habe ich trotz unklaren Rechtslagen Recht behalten bei den
Fragen nach der Garantiefunktion bei Zahlungskarten, beim Beginn des
Versuchs des Fälschens und schließlich jetzt bei der
mittäterschaftlichen Einbindung der Skimmer (Ausspäher) in ihre
arbeitsteiligen Strukturen.
Das Beispiel zeigt, dass der BGH zunehmend Härte gegen die moderne und auf technischen
Tricks beruhende Kriminalität entwickelt
(3).
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Recht
behalten habe ich auch wegen der Frage nach der fortdauernden
Verwertbarkeit von Vorratsdaten, solange sie nach Maßgabe der
vorläufigen Anordnungen des BVerfG rechtmäßig erhoben wurden (
Verwertungsgrenzen). Die öffentliche Diskussion wird aber die
rechtlichen Feinheiten kaum wahrnehmen, die mit der
Vorratsdatenspeicherung verbunden sind
(4),
solange Unwissen mit dem Wort "umstritten" betitelt wird
(5)
und gleichermaßen professionelle wie weitsichtige Entscheidungen - wie
die des LG Landshut
(6)
- nicht in ihrer Tragweite wahrgenommen werden.
04.04.2011
Dies ist
die erste Ausgabe eines Rechtsprechungsreports nach der Art des
Cyberfahnders. Er beschränkt sich auf die wichtigsten
Cyberfahnder-Themen, kommentiert die Entscheidungen und Entwicklungen
und versucht, das Ganze noch in eine verständliche Sprache zu fassen.
Der Report ist kein Ausbildungs-Skript, das mit Merksätzen über die
Strafbarkeit verschiedener Erscheinungsformen berichtet oder
abgesicherte Handlungsanweisungen gibt. Dazu sind die angesprochenen
Probleme zu speziell und zu weit von einer schematischen Behandlung
entfernt.
Er dient vielmehr zur Zusammenfassung von Entwicklungslinien und zur
Bildung von Perspektiven, wie das Kapitel über das
Skimming-Strafrecht zeigt.
53 Fußnoten
und noch mehr Quellenverweise sprechen für sich. Nach vier Jahren
Cyberfahnder verbergen sich so viele Basistexte in ihm, dass ich nach
Herzenslust auf sie zurückgreifen kann, wobei es auch mir manchmal
schwer fällt, sie wieder zu finden.
Dieser
Umgang mit dem Gesetz, seiner Auslegung und der Rechtsprechung betrifft
meine Kernkompetenz, wie es im Management-Slang so schön heißt. Mit
meinen Prognosen zur Entwicklung der Rechtsprechung habe ich nicht immer
richtig gelegen, mit meinen frechen Kommentaren und Einschätzungen
meistens schon.
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Skimming und Mittäterschaft |

Großansicht
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03.04.2011
 Mit der
Beurteilung, dass sich beim arbeitsteiligen Skimming die Täter, die sich
auf das Ausspähen von Kartendaten und PIN beschränken, bereits dann am
Versuch der Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion beteiligen
können, sobald sie die ausgespähten Daten an die Cashing-Täter
übermitteln
(7),
hat der BGH einen mutigen Schritt unternommen. Die wesentlichen
Rechtsfragen sind damit geklärt, soweit sie das Skimming betreffen. Die
klärenden Worte zur Gewerbsmäßigkeit bei mehraktigen Taten
(8)
haben eher Auswirkungen auf das allgemeine Fälschungs-
(9)
als auf das Skimmingstrafrecht
(10).
Die beiden maßgeblichen Entscheidungen haben es mir ermöglicht, das
hilfreiche Beteiligungsmodell
(11)
aus dem Sommer 2010 um ein Phasenmodell zu ergänzen [siehe
links,
(12)].
Es zeigt die Tatakte beim Skimming und weist ihnen die strafbaren
Beteiligungsformen zu, wobei es wegen des Versuchs verschiedene Lösungen
geben kann je nach dem, wie die Arbeitsteilung der Täter gestaltet ist
(13). Die Einzelheiten wurden bereits in das
Arbeitspapier
Skimming eingefügt.
Mehrfach
habe ich mich darüber beschwert, dass der BGH keine klärenden Worte über
die Beteiligungsweise der Skimming-Täter verliert, die sich in einer
arbeitsteiligen Struktur nur am Ausspähen selber, nicht aber auch am
Fälschen beteiligen. Der 3. Strafsenat gibt jetzt zu
(14),
dass er
bislang in vergleichbaren Fällen die Annahme von Mittäterschaft durch
die Tatgerichte gebilligt habe und verweist auf eine nicht
veröffentlichte Entscheidung
(15).
Dann wird der BGH deutlicher: Der Gehilfe (
§ 27 Abs. 1 StGB) zeichnet sich regelmäßig durch eine offensichtlich ganz
untergeordnete Tatbeteiligung aus, der Mittäter (
§ 25 Abs. 2 StGB) übt hingegen Tatherrschaft aus, will den finalen Taterfolg
erreichen und fügt sich in die arbeitsteilige Struktur ein, so dass die
Handlungen eines Täters die notwendige Ergänzung der des anderen sind.
Dabei kann es ausreichen, dass der eine Mittäter nur im
Vorbereitungsstadium handelt <Rn 5>.
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Die
Ausspäher leisten
jedoch - eingebunden in die Gesamtorganisation - einen besonders
erheblichen objektiven Tatbeitrag; denn das
Beschaffen der Daten war die unverzichtbare Voraussetzung für das
weitere deliktische Vorgehen. Ohne die
ausgespähten Daten hätten keine Dubletten hergestellt werden können
<Rn 6>. Weiter:
Nicht wesentlich für eine Beihilfe spricht auch, dass den
Angeklagten - die in Deutschland nicht über nennenswerte Ortskenntnisse
verfügten - die einzelnen Banken vorgegeben wurden. Ins Gewicht fällt
vielmehr, dass sie vor Ort bezüglich des gesamten Ausspähens der Daten
beim Einbau, der Kontrolle sowie dem Abbau der erforderlichen Geräte auf
sich allein gestellt waren und damit über einen längeren Zeitraum
jedenfalls teilweise durchaus komplexe, besondere
Kenntnisse und Fähigkeiten erfordernde Handlungen zu verrichten hatten,
die zudem für sie mit einem im Vergleich zu den übrigen Beteiligten
besonderen Entdeckungsrisiko verbunden
waren. Auch das Tatinteresse der Angeklagten war hoch; denn der Umfang
der ihnen zum Teil gezahlten und im Übrigen versprochenen
Entlohnung mag zwar nach herkömmlichen
mitteleuropäischen Maßstäben eher gering erscheinen; das Entgelt hätte
den Angeklagten jedoch in ihrer Heimat für mehrere Monate zum Leben
genügt <Rn 6>.
Die von mir
vertretene Position ist erheblich vorsichtiger
(16)
und ich erinnere an meine satirischen Bemerkungen zu den handwerklichen
Anforderungen an die Skimmer
(17).
Mit den klaren Worten des BGH im Rücken ist zu sagen: Es müssen schon
besondere Umstände sein, die die Täter des
Skimmings im engeren Sinne nur zu Gehilfen machen.
Offen lässt
der BGH die vom GBA mehrfach vertretene Auffassung, im
Vorbereitungsstadium bestehe Tateinheit (
§ 52 StGB) zwischen der Vorbereitung der Fälschung von
Zahlungskarten (
§ 149 StGB) und der auf die Fälschung von Zahlungskarten mit
Garantiefunktion (
§ 152b StGB) gerichteten Verbrechensabrede (
§ 30 StGB) <Rn 12>. Er bestätigt jedoch die Anwendung der
Beteiligungsform der Verbrechensabrede (
§ 30 StGB) auf Skimming-Täter und präzisiert: Richtet sich die
Abrede darauf, sich an mehreren selbständigen Fälschungstaten zu
begehen, so handelt es sich aus der Sicht des Täters im
Vorbereitungsstadium nur um eine Tat in Idealkonkurrenz (Tateinheit,
§ 52 StGB) <Rn 15>.
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Grenzen der Verständigung |
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03.04.2011
Im Rahmen
einer Absprache im Strafverfahren darf keine Punktstrafe vereinbart
werden. Vielmehr muss dem Gericht eine klare Ober- und Untergrenze für
den individuellen Strafrahmen zur Verfügung stehen.
2009 hat
der Gesetzgeber die förmlichen Vorschriften über den "Deal" in die
Strafprozessordnung eingefügt [siehe Kasten
links,
(18)]
und damit Staatsanwaltschaften und Gerichte ausdrücklich dazu
ermächtigt, verbindliche Rechtsgespräche im Ermittlungs- und
Strafverfahren zu führen. Mit dem Verbot der Protokollierung von
Rechtsmittelverzichten (
§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO) nach einer Verständigung wird der
Angeklagte besonders davor geschützt, vorschnell und unüberlegt seine
Verurteilung zu akzeptieren.
Die Grenzen
für eine Verständigung bestimmt
§ 257c Abs. 2 StPO.
Sie muss sich auf die Rechtsfolgen beschränken, also in aller Regel auf
das Strafmaß, und auf das Prozessverhalten. Materielle Rechtsfragen
stehen hingegen nicht zur Disposition der Beteiligten. Das gilt
ausdrücklich für alle Maßregeln (
§§ 61 ff. StGB), zum Beispiel auch für Qualifikationsmerkmale
(gewerbsmäßiges Handeln, Bande) und die nach
§ 56 Abs. 2 StGB gebotene Legalprognose als Voraussetzung für eine
Strafaussetzung zur Bewährung. Darüber hinaus findet keine Verständigung
über Folgen und Handlungen statt, über die nicht auch das erkennende
Gericht zu entscheiden hätte. Das gilt besonders für den Strafvollzug
wie zum Beispiel die bedingte Entlassung (
§ 57 StGB), das Absehen von der Strafvollstreckung bei Abschiebung (
§ 456a StPO) oder die Unterbringung im offenen Strafvollzug.
Mit den
Grenzen der Verständigung hat sich auch jetzt wieder der BGH auseinander
gesetzt
(19)
und damit den Katalog der abredefähigen Fragen präzisiert:
Die
Absprache muss eine Ober-
und eine Untergrenze
(20)
des individuellen Strafrahmens bestimmen. Sie darf sich nicht auf eine
Punktstrafe
beschränken
(21).
Der Schuldspruch und damit die rechtliche
Qualifikation (z.B. "Bande") sind nicht
verhandelbar
(22).
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Die Strafe muss schuldangemessen
sein (
§ 257c Abs. 4 StPO).
Ausgeschlossen sind Absprachen
über die Anrechnung im Ausland erlittener
Abschiebehaft,
über Vollstreckungserklärungen
wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen
(23),
die Halbstrafenverbüßung
(
§ 57 StGB)
(24)
und
das Absehen von der Strafvollstreckung
bei Abschiebung (
§ 456a StPO)
(25).
Die Voraussetzungen des Täter-Opfer-Ausgleichs (
§ 46a StGB), für die wieder eingeführte
Kronzeugenregelung (
§ 46b StGB)
(26)
und die Nebenfolgen (Verfall, Einziehung) sind dem Grunde nach nicht absprachefähig.
Das gilt auch für unverbindliche und unberufene Erklärungen des Gerichts
zu Fragen des Vollzuges
(27).
Mit diesem
(unvollständigen) Katalog sind keine Sprechverbote verbunden.
Selbstverständlich müssen die Beteiligten auch ihre Bewertungen zu
Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung oder zur Abschiebung äußern,
allein schon deshalb, damit sich die anderen Beteiligten darauf
einstellen können. Dasselbe gilt für den Umfang des Verfalls, des
Schadensersatzes oder auch zu Rechtsfragen, die von der abschließenden
Absprache ausgeschlossen sind. Das Gespräch dient aber auch zur
Meinungsbildung und die Einschätzungen können sich dadurch ändern.
Schließlich können die Beteiligten auch deutlich machen, wo ihre
"Schmerzgrenzen" bei Rechtsfragen sind, ohne dass über sie Absprachen
getroffen werden.
Bei aller
Gesprächsbereitschaft gilt: Das Gericht ist kein Basar! Spätestens wenn
der
Eindruck eines "Aushandelns" des staatlichen Strafausspruchs
<entsteht, dann ist> das mit der Würde des
Gerichts kaum vereinbar
(28).
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Verwertungsgrenzen |
schlanker Anklagesatz |
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03.04.2011
Es mag ein
sehr spezielles Problem sein: Bleiben die Vorratsdaten, die nach Maßgabe
der Einstweiligen Anordnungen des BVerfG rechtmäßig erhoben wurden
(29),
auch nach der Hauptsache-Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung
(30)
verwertbar? In einer Art Schnellschuss habe ich mich seinerzeit
positioniert
(31):
Ja, sie bleiben - jedenfalls in derselben Sache - verwertbar.
Für meine Meinungsbildung habe ich ein Wochenende gebraucht,
verfassungsrechtliches und mir völlig unbekanntes Neuland betreten und
das war nötig, weil es mehrere Verfahren gab, in denen genau diese Frage
bedeutsam war.
Der BGH hat
etwas länger gebraucht und argumentiert vielschichtiger und
ausschweifender. Nach dem 4.
(32)
und dem 1. Strafsenat
(33)
hat sich jetzt auch der 3. Strafsenat zu Wort gemeldet
(34).
Alle drei Entscheidungen bestätigen die von mir vertretene Position.
Das freut mich und macht mich ein bisschen stolz. Immerhin hatte ich
mich mit der Veröffentlichung meines Positionspapiers ziemlich weit aus
dem Fenster gelehnt. Es ist bei verschiedenen Entscheidungen
herangezogen worden. Das Landgericht Verden hat sich gegen die von mir
entwickelte Position gestellt
(34a).
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04.04.2011
Ohne die
Bedeutung und Aufgaben der Anklageschrift (Umgrenzungs- und
Informationsfunktion) einzuschränken, hat der Große Strafsenat des BGH
die Anforderungen an den Anklagesatz, der in der Hauptverhandlung
verlesen werden muss, deutlich verringert:
In
Strafverfahren wegen einer Vielzahl gleichförmiger Taten oder
Tateinzelakte, die durch eine gleichartige Begehungsweise gekennzeichnet
sind, ist dem Erfordernis der Verlesung des Anklagesatzes i.S.d.
§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO Genüge getan, wenn dieser insoweit
wörtlich vorgelesen wird, als in ihm die gleichartige Tatausführung,
welche die Merkmale des jeweiligen Straftatbestands erfüllt, beschrieben
und die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie bei
Vermögensdelikten der Gesamtschaden bestimmt sind. Einer Verlesung der
näheren individualisierenden tatsächlichen Umstände der Einzeltaten oder
der Einzelakte bedarf es in diesem Fall nicht
(35).
Der
schlichte Grund dafür ist: Nach einer Viertel Stunde ist die
Konzentrationsgrenze für die Schöffen und die die Öffentlichkeit
herstellenden Privatpersonen lange erreicht und alle anderen für die
Entscheidung bedeutsamen Personen kennen die Anklageschrift bereits in
Gänze. Deshalb dürfen die Anklagen wegen Serientaten künftig auch nur
noch Managementfassungen sein.
mehr
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Schwellengleichheit und Verwertungsverbot |
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03.04.2011
Die Frage
nach der Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus anderen
Verfahrensordnungen (z.B. der polizeilichen Gefahrenabwehr) wird uns noch
eine ganze Weile beschäftigen. Dabei geht es um die praktischen Grenzen
der
§§ 161 Abs. 2 und
477 Abs. 2 S. 2 StPO
(36).
Mit
überraschender Deutlichkeit hat sich der BGH unlängst gegen
Verwertungsverbote und für das Ideal der materiellen Gerechtigkeit
eingesetzt
(37).
In aller Regel folgt der rechtswidrigen Beweiserhebung kein Beweisverwertungsverbot
nach dem Vorbild der „Frucht vom verbotenen Baum“ in der
US-amerikanischen Rechtskultur.
Eine - einfachrechtliche -
nachträgliche Bemakelung rechtmäßig erhobener Daten kennt die
Strafprozessordnung nicht (...). Ein Verwertungsverbot kann daher nur
verfassungsrechtlicher Natur sein <Rn 22>. Erforderlich ist eine
Abwägung
zwischen den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen und dem Interesse
der Allgemeinheit an einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und
effektiven Strafverfolgung <Rn 25>. Der BGH setzt sich
insoweit für das
Leitbild der materiellen Gerechtigkeit ein:
Jedes Beweisverbot
<schränkt> die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden zur
Erhärtung oder Widerlegung des Verdachts strafbarer Handlungen <ein und
beeinträchtigt> so die Findung einer materiell richtigen und gerechten
Entscheidung ...; ein Beweisverwertungsverbot stellt von Verfassungs
wegen mithin eine begründungsbedürftige Ausnahme dar <ebenda>.
Wenn es um
den Umgang mit verdeckt erlangten Beweisen und Spuren geht, streben die
Verteidiger zum Oberwasser und bekommen die Strafrichter leicht nervöses
Flimmern in den Augen. Die Unsicherheit greift um sich und das völlig ohne Grund.
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Sobald
abgehörte Telefongespräche, die mit ihnen verbundenen Verkehrsdaten,
Erkenntnisse aus längerfristigen Observationen oder anderen verdeckten
Maßnahmen in ein anderes Ermittlungsverfahren eingeführt werden, wird
damit erneut in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen
(38).
Insoweit verlangt
§§ 161 Abs. 2 StPO, dass geprüft wird, ob die Erkenntnisse aus dem
Ursprungsverfahren auch in dem aktuellen Verfahren erhoben werden dürfen
(Schwellengleichheit). Ist das der Fall, dann steht ihrer Verwertung als
Vollbeweis nichts mehr entgegen.
Warum der
BGH dennoch penibel nach der rechtmäßigen Erhebung der in anderen
Verfahren erhobenen Erkenntnisse und sie nach Maßgabe des Willkürverbots
befragt
(39),
bleibt auf diesem Hintergrund mehr als fraglich. Die Importvorschrift
des
§ 161 Abs. 2 StPO verlangt nur nach zwei Prüfungsschritten:
Hätten wir gedurft
(40)?
Stehen der Verwertung aus dem Ursprungsverfahren verfassungsrechtliche
Verbote mit der Stärke des Willkürverbotes entgegen?
Verdeckt
erlangte Erkenntnisse verlangen als Voraussetzung in aller Regel nach
einem richterlichen Beschluss oder einer anderen Anordnung, zu der die
Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen vom Gesetz befugt sind.
Mehr ist im Zusammenhang mit dem
§ 161 Abs. 2 StPO nicht zu prüfen. Eine Willkürkontrolle verlangt
die Vorschrift nicht und wäre nur zwingend, wenn das US-amerikanische
Vorbild gelten würde.
Bevor verfassungsrechtliche Verwertungsverbote überhaupt zu prüfen
sind, müssen sie sich aufdrängen; für sie müssen tatsächliche
Anhaltspunkte bestehen. Für die erkennenden Gerichte gilt deshalb ein
Vertrauensgrundsatz: Wenn die verdeckt erlangten Erkenntnisse auf einer
formell rechtmäßigen Grundlage erlangt wurden, dann bestehen
grundsätzlich keine Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit.
Spurenansatz
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Spurenansatz |
Perspektiven |
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04.04.2011
Erkenntnisse aus Maßnahmen, die nur wegen bestimmter Straftaten
angeordnet und durchgeführt werden dürfen (
Schwellengleichheit, auch: hypothetischer Ersatzeingriff), dürfen nur dann vollbeweislich verwertet wenn,
wenn ihre Erhebung auch im laufenden Verfahren zulässig ist. Dieses
Gebot kennt mehrere Durchbrechungen
(41):
Sie sind verwertbar
wegen derselben prozessualen Tat, auch wenn sich die rechtliche
Beurteilung der Tat geändert hat
(42),
in Trennvorgängen, solange dieselbe prozessuale Tat betroffen ist,
als Zufallsfund, wenn er Straftaten betrifft, die einen
schwellengleichen Grundrechtseingriff zulassen
(43),
zur Begründung von Eingriffsmaßnahmen (Spurenansatz) und
zur Aufenthaltsermittlung.
Gegen die Verwertung als Spur wendet sich – jedenfalls im Zusammenhang
mit dem großen Lauschangriff – das BVerfG
(44).
Wegen aller anderen Eingriffsmaßnahmen gilt weiterhin die Position des
BGH:
Die so erlangten Erkenntnisse ... können nur Anlass zu weiteren
Ermittlungen zur Gewinnung neuer Beweismittel sein
(45).
Ein abschließendes und klärendes Wort steht noch aus. Das Bestreben
des Gesetzgebers war es jedenfalls, den Spurenansatz nicht zu
beschränken
(46).
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04.04.2011
Die
gegenwärtige Bundesregierung ist angetreten, die Cybercrime zu bekämpfen
(47).
Davon ist nicht viel geblieben, außer einem zahnlosen
Cyber-Abwehrzentrum
(48).
Vernünftige Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung
(49)
und zur Onlinedurchsuchung sind vorerst nicht mehr zu erwarten, nachdem
einer der Koalitionspartner droht, dem Cyberfahnder vom 01.04.2011 in
den Orkus zu folgen. SLS blockiert den Rest
(50).
Bahnbrechende Gesetzesvorhaben im Zusammenhang mit der Cybercrime stehen
nicht an. Die nationale Umsetzung der Cybercrime-Konvention verspricht
gesattelte Hühner, die am nächsten Zaun den Sprung verweigern
(51).
Die Beobachtung der Rechtsprechung führt immer wieder zu Überraschungen
(52).
Verlässliche Vorhersagen verbieten sich hingegen, so dass man eigentlich
nur hinterherhinken kann. Der BGH und das BVerfG geben Signale, die
lange Zeit völlig versteckt bleiben und plötzlich wieder Aktualität
beanspruchen. Gegenwärtig steht aber nichts an, was ganz dringend
entschieden werden müsste.
Das gilt nur für die Rechtsprechung, nicht aber auch für die
Rechtspolitik. Die dämmert vor sich hin, verschläft die Signale
(53)
und ängstigt sich vor den Aufwänden, die sie eigentlich betreiben
müsste.
Die Cybercrime verlangt nach einer aktiven, aggressiven und
strategischen Gegenwehr, die alle Register von der Fortbildung der
Strafverfolger über die Abarbeitung der laufenden Schweinereien bis hin
zur Durchbrechung der organisierten Strukturen zieht. Davon sind wir
noch weit entfernt.
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Anmerkungen |
(1)
BGH, Beschluss vom 16.03.2011 - 5 StR 581/10
(2)
GBA, Stellungnahme vom 12.08.2008 - 1 StR 414/08
(3)
Siehe:
Kreditkartenbetrug, 23.10.2010
(4)
Bestandsdatenauskünfte und Rechtsschutzverweigerung, 06.03.2011
(5)
"Umstritten" bedeutet: Ich bin dagegen, habe aber keine guten Argumente
für meine Meinung,
(4).
(6)
Landshut Stalker, 31.01.2011;
LG Landshut, Beschluss vom 20.01.2011 - 4 Qs 346/10
Skimming und Mittäterschaft
(7)
Versuch der Fälschung, 21.02.2011;
BGH, Urteil vom 27.01.2011 - 4 StR 338/10.
(8)
BGH, Beschluss vom 02.02.2011 - 2 StR 511/10
(9)
Angleichung des Rechts beim Falschgeld und Rauschgift, 13.03.2011
(10)
Auswirkungen auf das Skimming-Strafrecht, 13.03.2011
(11)
Bilderbuch Skimming-Strafrecht, 26.07.2010
(12)
Skimming:
aktuelles Beteiligungsmodell, 13.03.2011
(13)
Versuch, 13.03.2011
(14)
BGH, Urteil vom 17.02.2011 - 3 StR 419/10, Rn 4.
(15)
BGH, Beschluss vom 27.04.2010 - 3 StR 95/10 (nicht
veröffentlicht).
(16)
Arbeitspapier
Skimming, 10.3 Abrede mit Absatzabsicht.
(17)
wenn der Staatsanwalt erzählt, 18.11.2009
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Grenzen der Verständigung
(18)
Rechtsmittel nach einer Verständigung im Strafverfahren, 04.09.2010
(19)
Siehe auch:
Verständigung #2, 30.11.2010;
Wertungsfragen, 31.03.2011.
(20)
a)
BGH, Beschluss vom 01.03.2011 - 1 StR 52/11;
b)
BGH, Beschluss vom 16.03.2011 - 1 StR 60/11
(21)
BGH, Beschluss vom 27.07.2010 - 1 StR 345/10;
BGH, Beschluss vom 28.09.2010 - 3 StR 359/10.
(22)
(20) b)
(23)
No Deal ! 25.11.2010;
BGH, Beschluss vom 06.10.2010 - 2 StR 354/10.
(24)
(23)
(25)
BGH, Beschluss vom 17.02.2011 - 3 StR 426/10
(26)
(21)
(27)
BGH-Rundschau, 26.11.2010;
BGH, Beschluss vom 06.10.2010 - 2 StR 394/10.
(28)
(23)
Verwertungsgrenzen
(29)
Beginnend im März 2008:
BVerfG, Beschluss vom 11.03.2008 - 1 BvR 256/08;
Verwertung von Vorratsdaten nur wegen schwerer Kriminalität,
19.03.2008.
(30)
Vorratsdatenspeicherung ist unzulässig, 02.03.2010;
BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 - 1 BvR 256, 263, 586/08.
(31)
Umgang mit Verkehrsdaten, 07.03.2010;
Kochheim, Zum Umgang mit Verkehrsdaten.
(32)
zulässig erhobene Vorratsdaten bleiben verwertbar, 12.01.2011;
BGH, Beschluss vom 04.11.2010 - 4 StR 404/10.
(33)
Verwertungsverbot und Vorratsdaten, 10.03.2011;
BGH, Beschluss vom 18.01.2011 – 1 StR 663/10.
(34)
BGH, Urteil vom 13.01.2011 - 3 StR 332/10
(34a)
Siehe auch:
Verwertung von Vorratsdaten, 25.02.2011
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schlanker Anklagesatz
(35)
BGH, Beschluss vom 12.01.2011 - GSSt 1/10
Schwellengleichheit, Verwertungsverbot und Spurenansatz
(36)
Zweckbindung von Akteninhalten, 2007
(37)
BGH, Beschluss vom 18.01.2011 – 1 StR 663/10, Rn
22.
(38)
zulässige Verwertung verdeckter Zufallserkenntnisse, 28.02.2009;
rückwirkende Verwertbarkeit, 10.05.2009;
BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08
(39)
BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08; Rn 37.
(40)
Ähnliche Argumentation:
(39), Rn 51.
(41)
Verwertung verdeckt erlangter Beweise, 17.05.2009;
Kochheim, Verwertung von verdeckt erlangten Beweisen.
(42)
BGH, Urteil vom 14.08.2009 - 3 StR 552/08, Rn 27.
(43)
BGH, Urteil vom 27.11.2008 - 3 StR 342/08, Rn 12
pp.
(44)
BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR
1084/99, Rn 184, 339
(45)
BGH, Beschluss vom 18.03.1998 - 5 StR 693/97,
Leitsatz 1.
(46)
Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung
und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen
sowie zur Umsetzung der Richtlinie
2006/24/EG (Gesetzentwurf vom 27.06.2007), S. 66 der Begründung mit
weiteren Nachweisen.
(47)
digitale Spaltung der Gesellschaft. Cybercrime, 25.10.2009
(48)
Beratungsdienst ohne operative Befugnisse, 24.02.2011
(49)
Bestandsdatenauskünfte und Rechtsschutzverweigerung, 06.03.2011
(50
Überwachungsstaat statt Strafverfolgung, 23.09.2010
(51)
Das war böse, aber gut, und muss irgendwann, später, erklärt werden.
(52)
Der Eingehungsschaden löst den Gefährdungsschaden ab, 16.02.2011
(53)
Eskalationen in der dualen Welt, 19.02.2011
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Cyberfahnder |
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© Dieter Kochheim,
11.03.2018 |